Ein positiver Anfang ist das schon mal nicht. “So lasse ich dich nicht rein. Du siehst aus, als würdest du in die Oper gehen”, sagt die Türsteherin in Bomberjacke, Springerstiefeln und Cargohose abschätzig. Auch ich trage Cargos, allerdings aus Nylon, dazu einen bis zum Bauchnabel ausgeschnittenen Body und Netzstiefel. Weil meine Begleitung mich versetzt hat, müssen meine schweißnassen Hände und ich uns nun alleine mit der Doorbitch auseinandersetzen. “Was ist, wenn ich meinen Body ausziehe?”, antworte ich aus der Not heraus. Ein zweiter Türsteher winkt mich grinsend durch. Ich fühle mich, als hätte mir jemand vor den 200 Menschen hinter mir in der Schlange einen Stempel aufgedrückt: “völlig fehl am Platz”. Dabei bin ich extra von München nach Berlin gefahren, um mich eine Nacht völlig frei zu fühlen … indem ich zum ersten Mal eine Sexpositiv-Party besuche.
Solche Veranstaltungsreihen sind nämlich gerade in aller Munde. Schwule, Heteros, Trans People, Körper in allen Formen und Farben sollen hier zusammenfinden und Seite an Seite feiern. Dabei können sie vögeln. Oder eben auch nicht. Ist das wirklich ein Gegenkonzept zu der von heterosexuellen, weißen Männern dominierten Vorstellung von Sexualität? Oder ganz einfach eine schickere Techno-Version des guten alten Swingerclubs? Worauf ich mich letztlich einlassen würde, wusste ich nicht. Was ich wusste, war, dass ich meine Grenzen austesten wollte. Von Flirten über Knutschen bis hin zu Sex räumte ich mir im Vorfeld alle Möglichkeiten ein, solange ich mich danach fühlen würde.
Noch etwas verloren stehe ich an der grell ausgeleuchteten Garderobe an, während einige Hetero-Typen in Jeans- oder Sport-Shorts, Socken und Sneakers an mir vorbeiziehen. Andere Männer tauschen ihre grauen Straßen-Shirts gegen Ledergeschirre, ihre Hosen gegen Lederpants. “Ich fürchte, ich werde heute eine ganze Menge nackte Ärsche sehen”, ertönt es auf einmal hinter mir. Als ich mich umdrehe, blicke ich in die wohlwollenden Augen einer Kleinwüchsigen in Korsage, Tüllrock und Netzstrümpfen. “Und eine Menge Schwänze”, füge ich hinzu, jetzt schon ein bisschen weniger verloren. Wir lachen, alle anderen, die ebenfalls anstehen, steigen mit ein. Erste positive Erfahrung: In den vielen interessanten Gesichtern, die mir nun zugewandt sind, steckt kein bisschen Ablehnung. Im Gegenteil. Ein Mann um die 50 in Lederkilt und Dr. Martens steuert auf mich zu: “Mach dir ma keenen Kopf um deen Oberteil. Siehst wunderschön so aus. Is doch allet jut.” Er tätschelt meinen Arm und stellt sich als “Hannes” vor. Zum ersten Mal an diesem Abend entspannen sich meine Schultern. Etwas aufrechter, dennoch schnellen Schrittes, suche ich schließlich meinen Weg hinein. Steinstufen knirschen unter meinen Pfennigabsätzen. Kleine Punkte tanzen mir vor den Augen, während diese noch versuchen, sich an das Halbdunkel zu gewöhnen. Schwere Techno-Beats vibrieren durch die Gänge. So bewege ich mich durch die noch spärlich besuchte Location, vorbei an Bars, kleineren Dancefloors und einem Darkroom. In den rot beleuchteten Nischen werden später Leute chillen, sich unterhalten, Sex haben, zu zweit, in Gruppen, während andere ihnen dabei zuschauen. Neugierig betrachte ich die Menschen um mich herum: zwei Jungs in Reifröcken und Renaissance-Halskrausen, eine Frau, die über ihrem volltätowierten Körper nur ein Kettengeschirr trägt, und ein Trupp langhaariger, bärtiger, muskulöser Heteromänner Marke Wikinger-Eigenbau. Einen nach dem anderen fixiere ich mit einem Blick. Für eine kurze Zeit bleiben sie hängen, reißen sich dann aber auf dem Weg zur Bar wieder los. Es ist noch zu früh, wir sind noch zu nüchtern.
Während ich auf mein Bier warte küsst mich jemand auf die Schulter. Ganz vorsichtig. Zaghaft. Es ist Ethan, einer der Wikinger, zu dem ich mich nun umdrehe. Zu uns gesellen sich die Jungs Faris und Halim aus Palästina. Wir reden über Politik, Esskultur, über die gute Musik. Keiner spricht über Sex, obwohl wir von ihm eingeschlossen sind. Schließlich macht Charlotte, eine bildschöne Südkoreanerin aus Washington, aus unserer Vierer- eine Fünfergruppe. “In den USA ist es wirklich noch schlimmer, als man es sich in Europa vorstellt”, erklärt sie mir. Mit “es” meint sie die Prüderie und eine eingeschränkte Weltsicht. Dann fügt sie hinzu: “Dieser Ort ist ein anderer Kosmos. Es ist fantastisch.”
Dieser Kosmos riecht für mich nach Sex und warmen Körpern. Es muss mittlerweile zwischen 1 und 2 Uhr morgens sein. Genau weiß ich es nicht. Es ist der Moment, der zählt – ich fühle mich wie in einer Parallelwelt, in der Zeit keine Rolle spielt.
Handys gibt es nicht. Die Teilnehmer verstehen, dass diese kostbare Freiheit nur entstehen kann, wenn die Grenzen des anderen respektiert werden. Für diejenigen, die das nicht einsehen wollen, gibt es Security. Sie bewegt sich die ganze Nacht durch die Floors, Räume und versteckten Winkel, verantwortlich dafür, schwarze Schafe, die ohne Einverständnis übergriffig werden, diskussionslos vor die Tür zu setzen. Ich erlebe an diesem Abend nicht, dass sie einschreiten muss.
Unsere Gruppe hat sich von der Bar mittlerweile auf die Tanzfläche bewegt, wo wir umgeben sind von Körpern – erregten, geschmückten, in Lack, Leder und Spitze. Männer, Frauen, um- und ineinander verschlungen, oder ganz bei sich und der Musik. Ethan tanzt eng an mir, streicht mir über die Wange und den Hals, drückt meine Hand. Weiter geht er nicht. Ich rieche sein langes Haar, spüre Charlotte hinter mir, die Jungs Faris und Halim küssen sich neben uns. Keiner von uns möchte weiter gehen – darüber herrscht ein schweigendes Einverständnis. Schwerelos im Kopf lassen wir uns von der Situation tragen, dabei vertrauen wir darauf, was unsere Intuition uns sagt, und nicht darauf, was unser Kopf diktiert. Vielleicht fühlen sich die flüchtigen Berührungen deshalb so heilend an. Sie scheinen sich wie Pflaster auf unsere kaputt getinderten Seelen zu legen, die im Laufe der Jahre von der Oberflächlichkeit und Respektlosigkeit des modernen Datens unendlich müde sind. So kommt es, dass ich mich halb nackt und umgeben von Fremden und aggressivem Techno viel weniger allein fühle als in manch alltäglicher Bürosituation, sicherer als auf einer konventionellen Party, auf der man sich als Frau oftmals eklig anmachen, begrapschen und beleidigen lassen muss, wenn man auf ungebetene Annäherungsversuche nicht eingeht. Es ist ein seltsamer Zustand von Glückseligkeit.
Peitschenknallen, dann ein Ächzen. Wieder knallt es. Leder trifft auf nackte Haut. Ich habe mich von der Gruppe getrennt, weil ich von einer Performance gehört habe, die in einem der hinteren Räume stattfinden soll. Fasziniert sitze ich auf einem Sofa, ziehe an meiner Zigarette und bin jetzt Zuschauerin: Ein nackter Mann kniet auf einer Lack- Pritsche und wird von zwei attraktiven Frauen in Highheels und Krankenschwesternkostümen gespankt. Mit bestimmter Miene hauen sie immer und immer wieder zu, bis eine ihr Paddel in die Runde hält. Warum eigentlich nicht, denke ich. Und greife beherzt zu. So stehe ich nun vor dem Mittfünfziger mit dem Finanzberater-Look: Zigarette in der einen, das rote Paddel in der anderen Hand. Ich nehme noch einen Zug, stoße den Rauch aus und verpasse ihm einen vorsichtigen Hieb auf den Hintern. Dann suche ich bei den Krankenschwestern Bestätigung, die mir zunicken. Ein paarmal hole ich so aus. Obwohl ich immer dachte, dass Spanking nicht so mein Ding sei, geben mir das entgegengebrachte Vertrauen, die Aufmerksamkeit und der Machtmoment ein inneres High – eine innere Stärke, die mir neu ist.
Benebelt, aber unfassbar happy beschließe ich, dass es Zeit ist, zu gehen. Jetzt eile ich nicht mehr, ich gehe langsam und bedächtig. Ich genieße die Blicke, die über meinen Körper schweifen. Ein letztes Mal schaue ich mir die Paare an, die Menschengruppen an den Wänden, in den Nischen, auf den Bänken, als sich plötzlich eine schwarze Tür in der grauen Steinwand öffnet. Der Raum dahinter ist pink erleuchtet. Darin steht ein schmaler Mann in einem rosa Ledergeschirr, einer blonden Perücke und Perlenschmuck vor dem Gesicht. „Komm doch rein, ich mache ein Bild von dir“, lädt er mich mit sanfter Stimme ein, als hätte er auf mich gewartet. Ich folge der Einladung und betrete den Raum, der surreal wirkt. Er bedeutet mir, Platz zu nehmen. Wie die Hauptattraktion throne ich auf dem Podest in der Mitte des Raums und lasse mich ablichten. Hinterher umarmen wir uns zur Verabschiedung, dabei flüstert er mir ins Ohr: “Du bist eine Göttin.”
So entlässt er mich. Auf meinem Weg hinaus ziehen die Bilder der vergangenen Stunden an mir vorbei. Eine Sexpositive Party ist sicher kein sexueller oder gesellschaftlicher Idealzustand, aber dennoch weitaus mehr als stumpfes Rumgevögel. Es sind Partys, auf denen Menschen beim Feiern auf besondere Weise zusammenkommen und -finden. Derart befreit laufe ich in den neuen Morgen, dem ich nun größer als am Anfang dieser extremen Erfahrung begegne.
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